
9. - 19. Juli 2020
Liebe Besucherinnen und Besucher des digitalen »Mannheimer Sommers«!
Natürlich: Theater ist eine zutiefst analoge Kunstform. Sie findet normalerweise als Ereignis in Raum und Zeit statt. Genau das ist aber derzeit nicht oder nur unter extrem einschränkenden Bedingungen möglich. Was schon für den normalen Theaterbetrieb gilt, gilt um so mehr für ein internationales Festival – besonders, wenn der Themenschwerpunkt »Orient und Okzident« lautet, wie bei uns in diesem Jahr. Ich freue mich deshalb umso mehr, dass wir es geschafft haben, das Programm des 2. »Mannheimer Sommers« in die digitale Sphäre zu versetzen und dadurch zu retten. Klicken Sie sich durch ein reichhaltiges Angebot von Streams, Videos, Fotos, Texten und mehrere speziell entwickelte Formate. Und freuen Sie sich mit uns auf ein leibhaftiges Wiedersehen in zwei Jahren!
Ab dem 9. Juli 2020 finden Sie täglich neue Beiträge auf dieser Seite.
Viel Spaß wünscht
Jan Dvořák
Künstlerischer Leiter »Mannheimer Sommer«
»WER SICH SELBST UND ANDERE KENNT / WIRD AUCH HIER ERKENNEN: / ORIENT UND OCCIDENT / SIND NICHT MEHR ZU TRENNEN.«
Johann Wolfgang v. Goethe: »West-östlicher Divan«
Man darf raten: Algerien, Ägypten, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Israel, Italien, Kroatien, Libanon, Marokko, Mazedonien, Montenegro, Portugal, Rumänien, Schweiz, Serbien, Slowenien, Spanien, Syrien, Tunesien, Türkei, Ukraine, Ungarn – was haben alle diese Länder gemeinsam? Die Antwort liegt in der Vergangenheit. Die genannten Länder waren vollständig oder zum Teil Provinzen des Römischen Reiches, das seine größte Ausdehnung im Jahr 127 nach Christus erlebte. Seither leben wir in einem transkulturellen Raum von Orient und Okzident, der über Jahrhunderte sowohl durch Konkurrenz und Krieg als auch durch Austausch und Bewunderung geformt wurde. In einer Zeit, in der Nationalisten, Terroristen und Rassisten versuchen, die Gesellschaft zu spalten und zu polarisieren, ist der Blick auf die gemeinsame Herkunft von entscheidender Bedeutung. Denn nur die Rekonstruktion der gemeinsamen Geschichte kann helfen, die Konfliktlinien unserer eigenen Zeit besser zu begreifen.1
Die belegbare Geschichte von Orient und Okzident beginnt im alten Griechenland und seinen Kolonien, mit den Perserkriegen, Alexanders Eroberungen und schließlich mit dem das ganze Mittelmeer umschließenden Römischen Reich. Die im Laufe dieser tausendjährigen Prozesse entstandene mittelmeerische Hochkultur kolonisierte zunehmend auch den nordeuropäischen Raum bis zum Limes und brachte die dortigen Bevölkerungen unter den Einfluss ihrer Politik, Religion und Kunst.2
Während aber im Westen nach dem Untergang Westroms zunächst mittelalterliche Dunkelheit ausbrach, führte das »goldene Zeitalter des Islam« vom 8. bis zum 13. Jahrhundert das Erbe der Antike auf wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet fort. Philosophie, Dichtung, und Wissenschaft brachten Denker wie Ibn Ruschd (Averroës), Ibn Sina (Avicenna), Rumi oder Hafis hervor und beeinflussten die europäische Geschichte maßgeblich, zumal Teile Europas von Serbien und Ungarn bis zur spanischen Halbinsel in den Machtbereich übergingen.
Es ist nicht zu hoch gegriffen, wenn man postuliert, dass die Renaissance als Wiederentdeckung des Altertums ohne diese Sammel- und Vermittlungsfunktion des Orients nicht stattgefunden hätte – ganz zu schweigen davon, dass das abendländische Christentum im Kern eine orientalische Religion ist.3 Es spricht also sehr viel dafür, die Selbstauffassung Europas einer Revision zu unterziehen, wie es schon Johann Wolfgang v. Goethe in seinem »Westöstlichen Divan« 1819 hellsichtig gefordert hatte. Der unvoreingenommenen Betrachtung steht entgegen, dass die gemeinsame Geschichte seit der Niederlage des Osmanischen Reiches vor Wien 1683 zunehmend vom Macht- und Überlegenheitsanspruch Europas geprägt wurde. Nachdem sich die europäischen Eliten der Aufklärungsepoche in einem heroischen Kampf gegen Adel und Kirche aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« herausgekämpft hatten, diente das wissenschaftlich, künstlerisch und technisch Erreichte oft dazu, die vermeintliche Überlegenheit anderen Kulturen, Völkern oder Hautfarben gegenüber zu beweisen.4 So müssen die gemeinsamen Wurzeln von Ost und West erst wieder freigelegt werden, bevor man sie in eine emanzipatorisch verstandene Zukunft fortschreiben kann.
Nicht nur Philosophie und Geschichtswissenschaften sollten sich dieser Aufgabe stellen, auch die Künste und besonders die Musik sind gefordert. Galt doch lange Zeit auch die polyphone, in Partituren festgehaltene Musik des Westens5 als ultimativer Beweis kultureller Überlegenheit gegenüber der monophonen, rhythmisch orientierten arabischen Musik.6
Tatsächlich profitierte auch die Musik von der Beziehung zum Orient: So wurde seit dem Mittelalter ein reiches Instrumentarium in die europäische Kunstmusik integriert. Von der Laute bis zur Fiedel, vom Becken bis zur Gran Cassa reichen die Übernahmen. Auch orientalische Kompositionstechniken wurden in stilisierter Form imitiert.
Allein in der Zeit von 1780 – 1850 wurden gut 250 mehr oder weniger orientalische Stoffe auf die Bühne gebracht. So bündeln sich in einem Werk wie Mozarts Singspiel »Die Entführung aus dem Serail«7 aus dem Jahr 1782 die Fragen nach dem Verhältnis zum Orient und seiner Repräsentanz in den westlichen Künsten wie in einem Brennglas. In stilisierter Form werden hier der grausame, der lächerliche und der weise »Orientale« vorgeführt: klischeehafte Denkfiguren, die bis heute die Auseinandersetzung des Westens mit dem Orient prägen.
Gerade durch diese Bezüge zum Orient – der im Theater bis nach Japan reicht – befindet sich die Oper in heikler Lage. Denn angesichts von Stücken wie der »Entführung« oder Puccinis »Madama Butterfly«8 bleibt ihr oft nichts anderes übrig, als die multikulturelle Gegenwart zu ignorieren, in der es nicht mehr um phantastische Fremde aus dem Morgenland gehen kann, sondern um Mitbürger, die mit ihren Steuern die Theater mitfinanzieren.
Höchste Zeit also, das monadische System »Oper« für diskursive Selbstkritik zu öffnen, die veränderte gesellschaftliche Situation als Chance zur Weiterentwicklung zu begreifen. Und in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion die Aufteilung in Ost und West, die im Zeitalter von Touristen- und Flüchtlingsströmen ihre Unschuld verloren hat, durch einen weiterblickenden Ansatz zu ersetzen.9
Nicht die Errungenschaften der Aufklärung sollen zur Disposition gestellt werden. Wissenschaftsfreiheit, Religionsfreiheit, Kunstfreiheit und besonders die politische Freiheit sind das wertvollste Erbe des 18. Jahrhunderts.10 Aber auch die Aufklärung und die ihr verbundenen Künste und Wissenschaften müssen, wenn sie ihren Ansprüchen gerecht werden wollen, verstärkt ihre blinden Flecken reflektieren, wozu insbesondere die Verwechslung des weißen, bürgerlichen Mannes mit dem »Menschen an sich« gehört.
Diese »Aufklärung der Aufklärung« über ihre eigenen nichtverstandenen Voraussetzungen und Vorurteile gehört zu den Aufgaben der Gegenwart – und zum unabgeschlossenen Projekt der Aufklärung selbst.
1 Der Tanzabend »Beytna« entsteht aus einer interdisziplinären und transnationalen Arbeitsweise.
2 Während die Skandinavier von den Römern unbehelligt blieben, was man bis heute an dem eigensinnigen Stil von Künstlergruppen wie »Hotel Pro Forma« aus Dänemark zu spüren meint.
3 Das Konzert »The Allegory of Desire« geht diesen Abhängigkeiten und Befruchtungen anlässlich von Salomos Hohelied aus dem Alten Testament nach.
4 Eine kritische Auseinandersetzung mit den Überlegenheitsfantasien der Europäer führt die Produktion »Phänomenologie des Verschwindens«.
5 Wie W. A. Mozarts »Requiem«, das aus barock-polyphonen und klassischen Elementen eine neue, überzeitliche Synthese bildet.
6 Diese Gegenüberstellung wird von Musikern wie dem »Trickster Orchestra« oder dem »Haz’art Trio« kreativ unterlaufen.
7 Dieser Exotismus wird Mozarts Singspiel »Die Entführung aus dem Serail« in der Neuinszenierung von Luk Perceval gründlich ausgetrieben.
8 Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Japanismus dieser Oper bietet »White Limozeen«.
9 »Crash Park« von Philippe Quesne zeigt humorvoll den Versuch eines Ausstiegs aus einer desaströsen Wirklichkeit.
10 Der »Paradiesgarten « und »Die außergewöhnlichen Reisen des Dr. La Mettrie« von KOMMANDO HIMMELFAHRT beschäftigen sich mit diesem kostbaren Erbe der Aufklärung.
Hier finden Sie das Programm, das nie stattgefunden haben wird.
Die Broschüre zum Festival, wie es noch im März 2020 geplant war.