Am 25. und 26.12.1944 fanden die beiden letzten Veranstaltungen des Nationaltheaters in der Christuskirche statt. Das Mannheimer Theaterleben war damit vorerst zum Erliegen gekommen. In der Nacht auf den 06.09.1943 war das Nationaltheater in B 3 bereits zerstört worden. Am 06.01.1944 folgte die Zerstörung des historischen Pfalzbaus, in den man zuvor ausgewichen war. Überwiegend hatte man für den Spielbetrieb das Schwetzinger Schloßtheater genutzt. Einige Vorstellungen bestritt man im Stadttheater Heidelberg. In Schwetzingen spielte die Oper am 30.08.1944 zum letzten Mal Madame Butterfly. Das Schauspiel führte dort O diese Kinder von Gherardo Gherardi auf. Zum 01.09.1944 wurde dann die Einstellung des Spielbetriebs von Reichsminister Joseph Goebbels verfügt.
Auch wenn das Nationaltheater nicht einmal ein Jahr später ab 12.08.1945 wiederum Konzerte in der Christuskirche gab, war nichts mehr wie zuvor. Ehemalige Kinos wurden zu Behelfsspielstätten umgerüstet. Ab 09.10.1945 spielte man zuerst im Ufa-Palast in N 7 und dann ab 11.11. in der Schauburg in K 1 (ZF 3).
Was die Spielplanpolitik betraf, wehte alsbald ein neuer Wind. Das Musiktheater bemühte sich, verfemte und verbotene Werke in der Reihe Verbotener Gesang erhält wieder Klang (ZF 49) zu Gehör zu bringen. Der Spielplan insgesamt wurde internationaler und sollte dem Publikum die Gelegenheit bieten, sich mit bis dato unbekannten dramatischen Strömungen zu konfrontieren. Vorstellungen bei unliebsamen Stücken oder Bühnenkünstler*innen lautstark zu stören, wie es im Nationalsozialismus vorgekommen war, galt nun wieder zu Recht als verpönt. Die neue Zeit bedingte ein anderes und wertschätzenderes Rezeptionsverhalten. Die Theaterleitung war realistisch genug, die erforderlichen Veränderungen nicht als selbstverständlich vorauszusetzen. Sie gab eine »Vademecum« heraus:
Auch wenn das Nationaltheater nicht einmal ein Jahr später ab 12.08.1945 wiederum Konzerte in der Christuskirche gab, war nichts mehr wie zuvor. Ehemalige Kinos wurden zu Behelfsspielstätten umgerüstet. Ab 09.10.1945 spielte man zuerst im Ufa-Palast in N 7 und dann ab 11.11. in der Schauburg in K 1 (ZF 3).
Was die Spielplanpolitik betraf, wehte alsbald ein neuer Wind. Das Musiktheater bemühte sich, verfemte und verbotene Werke in der Reihe Verbotener Gesang erhält wieder Klang (ZF 49) zu Gehör zu bringen. Der Spielplan insgesamt wurde internationaler und sollte dem Publikum die Gelegenheit bieten, sich mit bis dato unbekannten dramatischen Strömungen zu konfrontieren. Vorstellungen bei unliebsamen Stücken oder Bühnenkünstler*innen lautstark zu stören, wie es im Nationalsozialismus vorgekommen war, galt nun wieder zu Recht als verpönt. Die neue Zeit bedingte ein anderes und wertschätzenderes Rezeptionsverhalten. Die Theaterleitung war realistisch genug, die erforderlichen Veränderungen nicht als selbstverständlich vorauszusetzen. Sie gab eine »Vademecum« heraus:
Der lateinische Ausdruck fordert mit seinem »Geh mit mir!« auch zum Gang in eine unbekannte Theaterwelt auf. Man opferte in den kärglichen 4-seitigen Programmheften dafür die ganze Rückseite. Der anlässlich der Aufführung am 12.06.1946 (ZF 22) unter der License-Number 5004 abgedruckte Text atmet ganz den Geist der Nachkriegszeit. Er beschwört die Fähigkeit zum Wiederaufbau nicht nur des Theaters, sondern auch der Gesellschaft. Zudem wollte man die einmalige Chance nutzen, etwas Neues zu schaffen. Inmitten der allgemeinen Verunsicherung machte das Nationaltheater mit dem Vademecum ein Angebot, mit Mut in eine fortschrittliche und vielleicht bessere Zukunft zu gehen. Letztlich trauerte ohnehin kaum jemand den seichten Werken nationalsozialistisch gefärbter Spielplan-Propaganda nach. Am 01.07.1933 hatte man z.B. im Neuen Theater im Rosengarten das Stück Der Wanderer von Joseph Goebbels gegeben. Der Theaterzettel zu dem Gastspiel der NS-Gastspielbühne Berlin fordert vom Publikum:
»Es wird gebeten, vor Schluß der Vorstellung von Beifallsäußerungen abzusehen.«
Sollte man vor dem Schlussapplaus also keine Beifallsäußerungen tun, waren somit auch eventuelle Missfallens-Bekundungen potentiell ausgeschlossen. Als die Kriegsereignisse voranschritten, wurden die Verhaltensregeln für den Fliegeralarm zum Bestandteil des Programmblatts. Bei Lope de Vegas Die schlaue Susanne am 20.06.1942 waren folgende Instruktionen zu lesen:
Mit kurzen schriftlichen Mitteilungen auf dem Theaterzettel oder Programmblatt, die sich von Zeit zu Zeit änderten, wuchsen Generationen von Mannheimer*innen im Publikum heran. Auch Theaterschaffende hatten meist einmal zuerst als Besucher*innen gelernt, geschriebene und ungeschriebene Regeln im Theater zu beachten. August Wilhelm Iffland (1759-1814) beschrieb in seiner 1798 erschienenen autobiografischen Schrift Ueber meine theatralische Laufbahn, wie ihn sein Vater auf den ersten Theaterbesuch vorbereitet hatte:
»Mein Vater selbst gab mir den Komödienzettel [Theaterzettel von Lessings Sara Sampson] und erklärte mir die Personen. Er gab mir Lehren wie ich mich im Schauspielhause zu betragen hätte. Ich sollte still, sittsam, ruhig seyn, nicht umhergaffen, die Augen nach dem richten, was auf dem Theater vorginge, wohl Acht haben, was dort für nützliche Dinge gesagt würden. Dies alles gelobte ich ernstlich und aufrichtig.«
Vater Iffland und die älteren Geschwister hatten das Werk vorher schon mit Begeisterung gesehen und empfahlen es dem kleinen Bruder. Das Stück, das in ihnen das Gefühl der »Rührung und Belehrung« ausgelöst hatte, beinhaltete schon Ansätze von Schillers »Theater als moralischer Anstalt«. Die Werte und Ansprüche der zukünftigen bürgerlichen Gesellschaftsordnung waren zur damaligen Zeit nicht nur erst zu entwickeln, sondern auch glaubwürdig und kompetent auf die Bühne zu bringen. Das erforderte ein hohes Maß an Innovations-Training, vor allem für die Schauspieler*innen. An einigen Bühnen wurden dafür sog. »Theatergesetze« erlassen. Man versprach sich davon, die gegebenen Umstände nach dem neuen Ideal verändern zu können. Die Theaterleiter (Dalberg in Mannheim, Goethe in Weimar oder Iffland in Berlin) erließen deswegen Regeln, die vom Theaterpersonal gegen Androhung von Strafen einzuhalten waren. Taten sie dies nicht, wurden Teile der Gage einbehalten. Diese Form der Professionalisierung fand in Mannheim ab 1780 statt. Unterstützung dabei fand Intendant Dalberg (ZF 17) in dem Basler Patriziersohn Abel Seyler (1730-1800), dem ersten Schauspieldirektor.
Die gemeinsame Aufgabe war es, modellhaft ein festes Ensemble zu formen. Dies sollte mit 19 Vorschriften erreicht werden. Die höchste Geldstrafe war zu entrichten, wenn man sich den außer- und innerhalb geltenden Weisungen Seylers widersetze oder sich ihm gegenüber ungebührlich verhielt. Nicht mehr mit Geld auszugleichen, war »die bewiesene unsittliche Aufführung«. Darauf stand die Aufhebung des Vertrags:
Der Aufbau einer nationalen Schaubühne schien kein leichtes Unterfangen. Deshalb glaubte Dalberg, die Anforderungen nochmals 1782 verschärfen zu müssen:
»Da seit einiger Zeit, vorzüglich aber diesen verwichenen Sommer hindurch, beim hiesigen Kurfürstlichen Theater neuerdings Unordnungen eingerissen sind; so wird es endlich zur Nothwendigkeit, nicht nur die bereits gegebenen Theatergesetze zu erneuern, und deren selben bessere Befolgung bei schärferer Ahndung einem jeden Mitgliede der Mannheimer Schauspieler-Gesellschaft aufzugeben, sondern auch diesen Gesetzen einige neue Anordnungen beizufügen.«
In den Anfangsjahren versuchten die nach dem Wegzug Kurfürst Carl Theodors in Mannheim Verbliebenen, Theatergeschichte als Disziplinierungsgeschichte zu schreiben. Die Künstler*innen sollten dadurch die erwünschten Leistungen erfüllen können und durch ihre Arbeit an Ansehen gewinnen. Die deutsche National-Schaubühne war ein Modellvorhaben, das es im Ancien Régime so nicht gab. Ihr künstlerischer, kunsttheoretischer, personeller und ökonomischer Anspruch konnte laut Prof. Thomas Wortmann seinerzeit so nie realisiert werden, blieb aber Triebkraft und Daueraufgabe.
Um die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit verringern zu können, wäre es interessant zu wissen, wie konsequent die Ahndungen tatsächlich durchgeführt wurden. Mit der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston wäre zu fragen, ob man die Theatergesetze als »schlanke oder füllige Regeln« verstanden hat. Waren die Theaterregeln »schlanke Regeln«, die keine Ausnahmen zuließen, oder wurden sie gerade durch ihre Fülligkeit zu robusten Regeln? Diese haben Bestand, weil sie Ausnahmen erlauben. Erstaunlich ist, dass schon damals ein Theatergesetz gegen »bewiesen unsittliche Aufführung« gab. Aber wer definierte »Unsittlichkeit«? Neu ist über 200 Jahre später, dass Theaterbeschäftigte nicht nur ihre Pflichten freiwillig erfüllen, sondern auch ein dezidiertes Bewusstsein für ihre Rechte entwickelt haben. So konnte der Gedanke entstehen, dass sie sich auch selbst um die unerlaubte Pflichtverletzung einer »bewiesen unsittlichen Aufführung« kümmern wollen und können. Das Antidiskriminierungsgesetz von 2006 und die Me-too-Debatte brachten zusätzlich Wind unter die Flügel einer historisch neuen Emanzipationsbewegung im Theater. Ab 2018 formulierte der Deutsche Bühnenverein flächendeckend, wie einerseits eine gute Zusammenarbeit aussehen müsse und andererseits ein Fehlverhalten rechtssicher zur Anzeige gebracht werden könne. Das derzeitige Ergebnis ist im »Wertebasierten Verhaltenskodex« (Fassung vom 28.10.2021) niedergelegt. Auf dieser Basis wurde am Nationaltheater ein »Verhaltenskodex Anti-Diskriminierung« für und mit den Beschäftigten erarbeitet sowie eine innerbetriebliche Beschwerdestelle nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zum 01.07.2021 eingerichtet.
Um die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit verringern zu können, wäre es interessant zu wissen, wie konsequent die Ahndungen tatsächlich durchgeführt wurden. Mit der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston wäre zu fragen, ob man die Theatergesetze als »schlanke oder füllige Regeln« verstanden hat. Waren die Theaterregeln »schlanke Regeln«, die keine Ausnahmen zuließen, oder wurden sie gerade durch ihre Fülligkeit zu robusten Regeln? Diese haben Bestand, weil sie Ausnahmen erlauben. Erstaunlich ist, dass schon damals ein Theatergesetz gegen »bewiesen unsittliche Aufführung« gab. Aber wer definierte »Unsittlichkeit«? Neu ist über 200 Jahre später, dass Theaterbeschäftigte nicht nur ihre Pflichten freiwillig erfüllen, sondern auch ein dezidiertes Bewusstsein für ihre Rechte entwickelt haben. So konnte der Gedanke entstehen, dass sie sich auch selbst um die unerlaubte Pflichtverletzung einer »bewiesen unsittlichen Aufführung« kümmern wollen und können. Das Antidiskriminierungsgesetz von 2006 und die Me-too-Debatte brachten zusätzlich Wind unter die Flügel einer historisch neuen Emanzipationsbewegung im Theater. Ab 2018 formulierte der Deutsche Bühnenverein flächendeckend, wie einerseits eine gute Zusammenarbeit aussehen müsse und andererseits ein Fehlverhalten rechtssicher zur Anzeige gebracht werden könne. Das derzeitige Ergebnis ist im »Wertebasierten Verhaltenskodex« (Fassung vom 28.10.2021) niedergelegt. Auf dieser Basis wurde am Nationaltheater ein »Verhaltenskodex Anti-Diskriminierung« für und mit den Beschäftigten erarbeitet sowie eine innerbetriebliche Beschwerdestelle nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zum 01.07.2021 eingerichtet.
Dr. Laura Bettag
Bildnachweise, Literatur und Links:
- Kachelbild: Schattenriss des ersten Intendanten Wolfgang Heribert von Dalberg
- Theaterzettel zu Der Wanderer von Joseph Goebbels. MARCHIVUM, Theaterzettel, Druckschriften digital 1933-07-01. Verfügbar unter https://druckschriften-digital.marchivum.de
- August Wilhelm Iffland (1798). Ueber meine theatralische Laufbahn. Als Facsimile verfügbar unter https://www.google.de/books/edition/Meine_theatralische_Laufbahn.
- Anton Pichler (1879). Die Theatergesetze der Mannheimer Nationalbühne (1780). In: Chronik des Großherzoglichen Hof- und Nationaltheaters in Mannheim. Mannheim: Bensheimer, S. 321 – 323.
- Thomas Wortmann (2023). Dokumentation und Produktion. Zum Konnex von Theater und Archiv am Beispiel des Nationaltheaters um 1800 und den Bühnenfassungen von Schillers Kabale und Liebe (1784/1800). In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft, Bd. LXVI 2022. Verfügbar unter https://www.wallstein-verlag.de/openaccess/9783835352759-012.pdf
- Lorraine Daston (2023). Regeln. Eine kurze Geschichte. Frankfurt: Suhrkamp.
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