Zeitfenster Nr. 21

Sitzmöbel als Ausstellungsobjekte eines neuen Lebensstils im Nationaltheater

Auch wenn dies nicht explizit formuliert wurde, wandten sich die Entwürfe für ein neues Nationaltheater nicht nur gegen das höfische Theater des 18. Jahrhunderts, sondern auch gegen die klassizistische Architektur. Diese wirkte zwar repräsentativ, aber nicht unbedingt einladend. Frank Schreiber spricht in diesem Zusammenhang von künstlich erzeugter Schwellenangst. Es kam einem Paradigmenwechsel gleich, als man in der Nachkriegsarchitektur begann, im Theaterbereich mit Glasfassaden zu arbeiten. Man sprach so mit damaligen Mitteln visuelle »Einladungen« an alle aus, das Theater als Teil des Stadtraums (und damit der Stadtgesellschaft) zu verstehen. Dieses Ziel bildete ein wichtiges Kriterium bei der Ausschreibung des Architekturwettbewerbs für das Nationaltheater. Der Architekt Gerhard Weber wollte die unumgängliche Größe des Gebäudes durch eine durchdachte städtebauliche Eingliederung so wenig massiv wie möglich erscheinen lassen. Neben anderen Maßnahmen war er bestrebt, durch das Farb- und Materialkonzept der Innenausstattung zur »Entmaterialisierung« des Baukörpers beizutragen. Es sollten sich Raumeindrücke bilden können, die heute ebenfalls unter Denkmalschutz stehen. Man benötigte daher Sitzgelegenheiten, die in dieses Konzept passten und deren ästhetische Wirkung man durch die Verglasung wahrnehmen konnte. Selbst wenn tagsüber kein Betrieb war bzw. nur Tageslicht zur Verfügung stand, bot man den damals als Wandelhalle bezeichneten Bereich als eine Art Ausstellungsraum für alle Interessierten an, in dem Kunst- und Designobjekte durch die Glasscheibe zu bestaunen waren.
Die Jacobsen-Stühle und Tische des Erfrischungsbereichs mit den Barcelona-Chairs im Hintergrund
Die Jacobsen-Stühle und Tische des Erfrischungsbereichs mit den Barcelona-Chairs im Hintergrund
Auf längere Sicht betrachtet, entpuppte sich dieser Anspruch als problembehaftet. Die Dokumentation des Landesamts für Denkmalpflege Baden-Württemberg verzeichnete und kommentierte 2017 den Zustand des Möbelbestands von 1957:
»Die ursprüngliche Möblierung aus 18 Barcelona-Sesseln (s. Zeitfenster 3) ist erhalten, wenngleich die Polsterbezüge später in schwarzes Leder verändert wurden. Die 18 Originale unterscheiden sich von 24 nachgekauften Barcelona-Sesseln in der Verschraubung der Einzelelemente. Ehemals wurden wohl auch Jacobsen-Stühle und zugehörige Tische im Bereich des Buffets aufgestellt, die abgängig sind. Ihre grazile Formgebung und die niedrige Bauhöhe fügten sich harmonisch in das Gesamtbild der Halle ein.«
Die Stirnseiten zum Friedrichsring bzw. zum Luisenpark mit ihren höher liegenden Glasfronten ermöglichen die Aussicht auf die Umgebung sowie eine abendliche Belebung durch künstliche Beleuchtung. Auf der Seite des Großen Hauses befinden sich die Glasfronten der Mitarbeitenden-Kantine und des Oberen Foyers. Auf der zum Friedrichsring gelegenen Seite kennt man heute noch den Ausdruck des »Fensters zur Stadt«. Dahinter war ursprünglich ein eigenes, wenn auch kleineres Foyer gelegen. 1957 war die Raumsituation so konzipiert:
MARCHIVUM, Bildsammlung, KF 014957
MARCHIVUM, Bildsammlung, KF 014957
Die originale Möblierung mit der weißen Polsterung existiert nicht mehr. Auch auf der zum Luisenpark gelegenen Seite wurden Designermöbel eingesetzt. Beispielsweise war die Kantine ursprünglich mit 100 Stühlen und zugehörigen Tischen von Egon Eiermann (1904-1970) ausgestattet. Im Zuge mehrerer Umbauten der Kantine und Verschleiß der Holzmöbel sind sie heute nicht mehr in Gebrauch. Dies gilt auch für die speziell entworfenen Orchesterstühle. In der 50er-Jahren ging es um ästhetische Reduktion und Abstraktion, nicht um wohnliche Bequemlichkeit oder gar Ergonomie. Die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Haß bringt es auf den seit dem 18. Jahrhundert bestehenden Punkt (S. 346):
»Das moderne Theater ist eine Immobilie, aber kein Wohnhaus« (…). Prägend hierbei sind ihrer Auffassung die Theatermacher/innen selbst. »Die Kraft dieser Figuren und Akteure – ihr Vermögen wiederzukehren oder zu insistieren – ist mit dieser Eigenschaft des Unbehausten ursächlich verbunden«.
Nach dem 2. Weltkrieg nahm man die Unbequemlichkeiten des neuen Lebensstils weitgehend klaglos hin. Mehr noch: die Klappstühle in den Zuschauerhäusern wurden gelobt: »Bemerkenswert ist die Bestuhlung des Saals mit äußerst zierlichen Klappstühlen, die dank der Verankerung im Boden mit nur einer Stange größtmögliche Beinfreiheit erlauben« – so die Beschreibung des Denkmalschutzes. Die innovative Bestuhlung der Zuschauerräume war in den Logen und dem Balkon für alle Besucher/innen identisch. Unvorstellbar wären unterschiedliche Ausstattungen nach Preiskategorien oder gar Stehplätze in den oberen Rängen nach dem Verständnis eines Theaters als »Probebühne der Demokratie« gewesen. Sitzplätze für Mobilitätseingeschränkte gab es damals noch nicht. Man sprach 1957 im Großen Haus noch von einer Kriegsversehrten-Loge, deren Zugang hinter der letzten Stuhlreihe lag und die außerhalb des Zuschauerraumes erreichbar war. Später bezeichnete man sie als »Zuspätkommer-Loge«.

Dr. Laura Bettag
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