Zeitfenster Nr. 37

Gesund, gymnastisch, ganzheitlich: die Bewegungschöre Rudolf von Labans (1879 – 1958)

MARCHIVUM, Bildsammlung, PK02446
Es war das 150. Theaterjubiläum im Jahr 1929, für das die Stadt Mannheim ein großes Fest im Mannheimer Stadion geben wollte. Der Aufruf per Plakat erging an die »Jugend von Mannheim und Ludwigshafen« und mündete in zwei Aufführungen von »Alltag und Fest«, einem sog. »Sinnreigen für großen Bewegungschor« am 23. und 26. Juni 1929. Es waren schließlich 500 Mitwirkende zusammengekommen. Sie erhielten in der Vorbereitungszeit unentgeltlichen gymnastischen Unterricht und zwei Freikarten zu den Festspielen (der »Volksfeier«). Es wurde sogar Fahrgeld für die Proben im Stadion für »weiterab Wohnende« gewährt und der »Tanzkittel« als Bühnenkostüm durfte behalten werden.
Das Vorhaben wurde von Tänzern Harry (ca. 1900 – 1944) und Grete Pierenkämper professionell betreut. Die Proben fanden in der Turnhalle der Hauptfeuerwache und in der freien Natur auf der Kollerinsel statt:
Auf der Kollerinsel im Altrhein-Gebiet
MARCHIVUM, Bildsammlung, AB00831-002
Labans Konzept des Bewegungschores entwickelte sich aus seinen lebensreformerischen Studien auf dem Monte Verità, wo er sich während des ersten Weltkrieges aufgehalten hatte. Ursprünglich stammte er aus einer wohlhabenden österreichisch-ungarischen Familie und sollte die übliche militärische Laufbahn einschlagen. Er tendierte jedoch zu den Künsten und studierte u.a. Architektur. Im Tanz übertrug er sein architektonisch geprägtes Raumverständnis auf die tänzerische Körperbewegung. Mit der Zeit entstanden allgemeine Erkenntnisse zu einem Bewegungssystem, nach dem er jedwede menschliche Bewegung im Raum (s. Choreutik) analysieren und ihre zugehörigen Bewegungsantriebe (s. Eukinetik) beschreiben konnte. Die »Laban Movement Analysis« besteht bis heute und ist Bestandteil der professionellen Tanzausbildung. Sie ist, genauso wie die von ihm entwickelte Tanznotation universell einsetzbar und trägt dazu bei, die Grenzen der Tanzstile überwinden zu können. Laban prägte wesentlich eine spezifische Form des Ausdruckstanzes, die später als German Dance in die Tanzgeschichte eingehen sollte. Um seine Ideen zu verbreiten, gründete er Schulen, von denen einige auch Bewegungschöre unterhielten. In den Anfängen auf dem schweizerischen Monte Verità ging es aber nicht allein um künstlerische Aspekte, sondern um die Schaffung eines neuen und ganzheitlichen Lebensstils. Man forschte mit Körper, Geist und Seele nach der Essenz des menschlichen Daseins. Noch vor Laban war die amerikanische Tanzpionierin Isadora Duncan dort anzutreffen. Zur Zeit Labans waren es u. a. die später auch für Mannheim bedeutende Tänzer*in und Choreograf*in Mary Wigman, die damals noch Maria Wiegmann hieß. Auch Suzanne Perrottet nahm großen Einfluss auf die dortige Entwicklung. Adelar Perrottet, der sich später André nannte, war ihr und Labans Sohn (ZF 38).
Zahlreiche bedeutende Geistesgrößen außerhalb des Tanzes, wie Ernst Bloch mit seiner ersten Frau Else Bloch-von Stritzky, Hermann Hesse, Gerhard Hauptmann und sogar Richard Strauss fanden sich auf dem Monte Verità ein. Man suchte vor allem eine gesunde, aber auch spirituelle Lebensform in Licht, Luft und Freiheit. Ein Leben im Einklang mit der Natur und dem Kosmos war das hohe Ziel. Auf Labans Erkenntnissen bauten auch die künstlerischen Therapien auf, insbesondere die Tanztherapie. Laban und seine Schüler*innen zogen in den 20er-Jahren weiter, der Mythos blieb. Der deutsche Bankier Eduard von der Heydt erwarb 1929 den gesamten Berg und ließ dort ein Hotel für die Reichen und Schönen im Bauhausstil errichten.
Um die gleiche Zeit wurde Laban zur Gestaltung der Volksfeier in Mannheim engagiert. Man versprach sich davon ein Event unter freiem Himmel, an dem alle Schichten der Bevölkerung Anteil nehmen könnten. Das Mannheimer Nationaltheater hatte zu dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit der Inflation gerade wieder etwas Fuß gefasst. So war die partizipative künstlerische Aktion außerhalb des üblichen Theaterbesuches auch eine kluge strategische Überlegung.
Ungefähr zeitgleich entstand in Mannheim zudem die Volksbühnenbewegung, deren Zielsetzung es war, u. a. der Arbeiterschaft den Theaterbesuch zu günstigen Konditionen zu ermöglichen. 1927 war das Mannheimer Stadion fertiggestellt worden. Die Verbindung des Theaters zu Sport und Gymnastik war etwas Neues und wurde positiv wahrgenommen. Das Mannheimer Stadion, das heutige Carl-Benz-Stadion, fasste 35.000 Zuschauer*innen und war 1929 auch Schauplatz eines Fußball-Länderspiels zwischen Deutschland und der Schweiz.
Die gemeinschaftliche Arbeit im Bewegungschor wurde zu Labans künstlerischem Erfolgskonzept. Nach seiner Auffassung (vgl. Wolfensberger, S. 110) muss Kunst, »in Form und Inhalt aus der Gemeinschaft herauswachsen«. Die Teilnahme in den Bewegungschören eröffnete den Tanzenden Bewegungen jenseits des Arbeitsalltags. Formen und Inhalte sollten nicht nur in den urbanen Raum wirken, sondern auch auf die Beteiligten selbst. Laban propagierte bei den Auftritten nicht das klassische Aufführungsverständnis, sondern sprach von einem »Showing«, bei dem man nicht zuletzt für sich und sein eigenes Erleben tanzte.
In dem Mannheimer Aufruf ist von »Massenchor« und »Bewegungschor« die Rede. Antja Kennedy definiert »Bewegungschor« als Laban‘sche Wortschöpfung. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Wort »Chor« der Musik zugeschrieben, obwohl es im griechischen Original »tanzende Schar«, »Tanzplatz« oder auch den »Reigentanz« selbst bezeichnet. Der Bewegungschor übernimmt diese Funktion des (antiken) Chores. Leitend ist nicht der Gesang oder die Sprache, sondern der künstlerische Ausdruck der Bewegung. Das Vorhaben Alltag und Fest in Mannheim war von Erfolg gekrönt:
MARCHIVUM, Bildsammlung, KF017016
Auf Musik wurde dabei keinesfalls verzichtet, wenngleich der Musik eine andere Rolle als im klassischen Ballett zukam. Es war auch keine Auftragskomposition, die zur Choreografie verwendet werden sollte. Vielmehr wurde aus bereits existenter Musik das Geeignete ausgewählt. Alles folgte einer übergreifenden Idee und unterstützte den Ausdruck der Bewegung. Die Musik für die Dauer der Aufführung von 1,5 Stunden war eine Zusammenstellung von Einzelkompositionen von Werner Gößling, Egon Wellesz, Gustav Holst, Ernst Krenek, Max Brand und Bruno Granichstaedten. Sie wurde aus Schallplattenaufnahmen zusammengestellt und per Großlautsprecheranlage der Firma Siemens & Halske übertragen. Für diese technische Novität warb man auf dem Plakat!
1930 übernahm Laban die Leitung des Balletts der Deutschen Staatsoper in Berlin. In den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft kooperierte er mit dem Regime und wurde von diesem gefördert. 1936 wurde er mit der Gestaltung der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele beauftragt. Sein monumentales Spektakel Vom Tauwind und der Neuen Freude unter Mitwirkung von 1.000 Laientanzenden wurde jedoch nach der Generalprobe von Propagandaminister Joseph Goebbels aus dem Programm genommen. Die differenzierte und intellektuell geprägte Laban’sche Bewegungsästhetik passte doch nicht zur nationalsozialistischen Ideologie. In Folge wurde Labans Arbeit diskreditiert, er verließ Deutschland 1937 und emigrierte 1938 über Paris nach England. Dort entstand nicht von ungefähr die Community-Dance-Bewegung. Sie initiiert Tanzprojekte für jedermann, unabhängig von Talent, Erfahrung, Alter, Geschlecht, Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialer Herkunft und präsentiert die Ergebnisse ihrer Arbeit öffentlich. 2005 erhielt der britische Choreograph Royston Maldoom (geb. 1943) aus Anlass des 200. Todestags Schillers im Studio Werkhaus des Nationaltheaters den Sonderpreis des Mannheimer Schillerpreises. Sein edukatives Tanzprojekt Rhythm is it unter Beteiligung der Berliner Philharmoniker hatte weltweite Resonanz erzielt.

Dr. Laura Bettag
Bildnachweis, Literatur und Links:
  • Kachelbild: MARCHIVUM, Bildsammlung, PK01955
  • Chronik der Jubiläumswoche 1929 in: Liselotte Homering (Hg.)(1998). Mannheim und sein Nationaltheater. Menschen – Geschichte(n) – Perspektiven. Mannheim: Palatium-Verlag, S. 545-547.
  • Giorgio J. Wolfensberger (1995). Suzanne Perrottet – ein bewegtes Leben. Berlin: Quadriga-Verl., S. 110.
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