Zeitfenster Nr. 52

Theater einmal sportlich genommen...

Bevor man auf dem Gelände zwischen Goethe- und Hebelstraße ein neues Theater baute, spielte man dort Tennis. Seit 1900 hatte der Lawn-Tennis-Club bis zu 16 Plätze im Angebot. Tennis galt damals als Exklusivsport. Insbesondere Erik Satie machte den Tennisplatz in seinem Stück Sports et divertissements zu einem facettenreichen Playground. In ironischer Abgrenzung zum Wagner‘schen Gesamtkunstwerk spielten in dem 21-teiligen Zyklus‘ für Klavier französische Musik, Dichtung und Zeichnung bewusst anders zusammen. Der letzte Teil Le Tennis entstand lt. Anmerkung des Komponisten am 21. April 1914. 1923 wurde das multisensorielle Werk als »Augenmusik« mit allen Texten und Zeichnungen veröffentlicht. Auch im Lawn-Tennis-Club Mannheim ging das Leben weiter. Im Winter 1931 nutzte man die Gelegenheit, auf den Tennisplätzen Eis zu laufen. Als das Tennis-Ass Stefanie Graf 1969 in Mannheim geboren wurde, waren Kunst und Sport noch getrennte Welten. Daran hatte auch der Neubau auf den Tennisplätzen 1957 nichts geändert. Niemand hätte erwartet, dass die Tennisspielerin und Teilnehmerin an den French Open, Marie Jacquot, im Jahr 2019 Erste Kapellmeisterin an der Rheinoper Düsseldorf-Duisburg werden würde. Die heute international agierende Dirigentin wechselte vom Tennisschläger zum Dirigierstab. Anton Zapf, der Erste Kapellmeister am Nationaltheater Mannheim von 1990 bis 1992, machte ebenfalls sportlich-musikalisch Karriere. Der ehemalige Regensburger Domspatz praktizierte seine Liebe zur Musik und zum Skispringen jedoch weitgehend gleichzeitig. Als ihn Unfälle zur Pause zwangen, intensivierte er seine musikalischen Studien. Während seine künstlerische Karriere bestens lief, begann er mit über 40 Jahren wieder mit dem Skifliegen. Er stellte seine Flugtechnik von Parallel- auf V-Stil um und machte sich als Skispringer einen Namen.
Snapshot aus dem Video halbzeit-mit-anton-zapf
Mittlerweile sammelt der 1951 geborene Musiker Senioren-Weltmeistertitel. In seiner Mannheimer Zeit munkelte man, er sei ein Nachfahre von Max Reger. Jedenfalls komponierte Anton Zapf u. a. Werke, die mit dem Ski-Fliegen zu tun haben: Jump and fly op. 3b oder Just like birds für Soli, Klavier, Chor und Instrumente op. 14. Dieses Stück wurde bei den Youth Olympic Games in Innsbruck 2012 uraufgeführt.
Im Bereich des Balletts und des Tanzes ist die Kombination aus Sport und Kunst naheliegender. Die Tanzsolistin Ilse Meudtner (1912-1990) gastierte am 05.12.1948 im Nationaltheater (ZF 50). Als Turmspringerin nahm sie an den Olympischen Spielen von 1928 teil. Von 1934 bis 1940 war sie Erste Solistin am Ballett der Berliner Staatsoper. In einem weiteren Lebensabschnitt arbeitete sie als Journalistin, u. a. für die ZEIT. Das Foto zeigt sie 1940 am Strand von Scheveningen:
© nationaalarchief.nl, gemeinfrei
Auch im Schauspiel müssen sich Kunst und Sport nicht ausschließen. Der bekannte Film- und Fernsehschauspieler Heino Ferch erntet dennoch häufig ungläubiges Staunen, wenn er von seiner früheren Karriere als Kunstturner erzählt. Samuel Koch (*1987) war ein begabter Turner, als er bei Wetten, dass…? einen schrecklichen Unfall erlitt. Heute ist der an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover ausgebildete Schauspieler Ensemblemitglied des Nationaltheaters. Er schafft es auf beeindruckende Weise, aus seiner Querschnittslähmung ungeahnte Möglichkeiten für sein künstlerisches Leben zu gewinnen. Nicht nur auf der Website des Nationaltheaters gibt es sehenswerte Szenenfotos zu seiner Schwerelos Show oder zu Wounds are Forever.
Wenn es um große Events im Kampfsport geht, zweifelt niemand an der Bühnenwirksamkeit dieser Spektakel. Populär waren immer schon öffentliche Ringkämpfe, deren Ankündigung es 1860 in den Ergänzungsband der Mannheimer Theaterzettel-Sammlung schaffte. Es war der Boxring, der dem Maler, Grafiker und Bühnenbildner Max Slevogt als Motiv und als Metapher diente. Er karikierte seine Erfahrungen mit der Bayreuther Festspielleitung als »Ring-Kampf«, den er leider während der »Welt-Kleisterschaft« verlor (ZF 41). Und das, obwohl sich seine Initialen mit denen von Max Schmeling deckten!
Der schweizerisch-französische Komponist Arthur Honegger (1892-1955) begeisterte sich für das Rugby-Spiel. Er komponierte sogar 1928 den sinfonischen Satz Mouvement symphonique no. 2 mit dem Titel Rugby. Er gibt die Sinneseindrücke bei einem Rugby-Spiel wieder. Honegger schrieb dazu:
»Ich liebe das Fußballspiel sehr […] aber ich fühle mich gehobener durch den wilderen, plötzlicheren, verzweifelteren und weniger geregelten Rhythmus des Rugbyspiels. Nicht irgendeine Phase des Rugbymatches will ich versuchen symphonisch wiederzugeben, und es wäre falsch, in meinem Stück Programmmusik zu suchen. Ich möchte ganz einfach in meiner Sprache als Musiker Spiel und Gegenspiel, Rhythmus und Farbe eines Matches im Stadion von Colombes ausdrücken […].«
Sein Urenkel Doug Honegger (*1968 in Montreal) begab sich schließlich auf die andere Seite der Arena, wurde Profi-Eishockeyspieler und Eishockey-Manager. Apropos Eishockey: als die Mannheimer SAP-Arena am 2. September 2005 eingeweiht wurde, spielten Solisten, Chor und das Nationaltheater-Orchester unter Leitung seines damaligen Generalmusikdirektors Frédéric Chaslin.
Immer mehr Theaterschaffende bekennen sich zu ihrer Vorliebe für Sport. Insbesondere fußballspielende Mannheimer Hausautoren reden öffentlich darüber. Schwingt hierbei auch ein wenig die Lust an der Trivialisierung ihres eigentlichen Metiers mit? So oder so: Christoph Nußbaumeder und Albert Ostermeier gehören der deutschen Autorennationalmannschaft an. Albert Ostermeier, Mannheimer Hausautor in der Spielzeit 1996.97 ist deren Torwart, Kurator der DFB-Kulturstiftung und Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur. Dazu gehört, dass es am Nationaltheater eine Fußballmannschaft gibt. Sie misst sich von Zeit zu Zeit auf nationaler Ebene mit der Konkurrenz und ging schon als Gewinner vom Platz. Ihr Motto: Kick it like (nein, nicht Beckham!), sondern Kick it like Schiller! Ein visualisierter Schlachtruf sah einmal so aus:
Der Trainer, heute Mitarbeiter der Hausverwaltung, war früher Profi-Fußballer. Schiller kam aufgrund seiner Lebensdaten nicht in den Genuss des Fußballspiels. Auf Schillers Stundenplan stand in der Hohen Karlsschule das Fach »Dansen«, wofür er die Note »schlecht« erhielt. Dies hielt ihn nicht davon ab, sich theoretisch mit einer neuen Form des Tanzes, dem englischen Tanz, auseinanderzusetzen. Dies ist in den sog. Kallias-Briefen an Theodor Körner nachzulesen. Sein berühmter Satz aus seiner Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen kann auch für das Sport-Spielgelten:
»Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«
Einen Schönheitsfehler hat das sportliche Unterfangen der Mannheimer Theater-Belegschaft. Die Mannschaft besteht bislang nur aus männlichen Mitspielern. Die Autorin Elfriede Jelinek profilierte sich einst mit Ein Sportstück während der Spielzeit 1998.99. Statt den Graben zwischen dem Sport und der Kunst zu vertiefen bzw. dessen Auswüchse berechtigterweise zu kritisieren, geht frau 2022 etwas anders vor. Die Choreografin und Performerin Zufit Simon saugt in ihrem Stück Radical Cheerleading Honig aus den Codes des Cheerleadings. Sie zerlegt Glamour, Glitter und tradierte Bewegungsmuster und fügt daraus neue Sinneinheiten zusammen. Durch lautes Skandieren von Slogans wie »Come on«, »Let’s go« oder »Let me hear your voice« der Tänzerinnen entstehen Assoziationen zu politischen Demonstrationen. Tanz, Sport und politischer Aktivismus verschmelzen zu einer neuen künstlerischen Ausdrucksweise. Auch die Sparte Tanz des Nationaltheaters zeigte gelegentlich Produktionen mit politischer Konnotation: HEIMATFRONT – Das Desaster lässt grüßen von MS Schrittmacher, Die vier Jahreszeiten von Giuseppe Spota oder Testing Machine von Stephan Thoss. Der Sport war hierbei jedoch nicht das Vehikel, um kritische Botschaften zu transportieren. Dafür lieben Tänzer*innen ihre Trainingsanzüge mit den drei Streifen doch zu sehr…

Dr. Laura Bettag
Bildnachweise, Literatur und Links:
  • Kachelbild: MARCHIVUM, Bildsammlung, AB01542-4-276
  • Irmgard Siede & Thomas Throckmorton. Zettel, die die Welt bedeuten. Theaterzettel als Quellen für Wissenswertes, Kurioses aus dem Nationaltheater. Verfügbar als Stream unter https://www.youtube.com/watch?v=lzqmNvFpaSg
  • Karikatur von Max Slevogt, angeboten in der Auktion 2023 des Antiquariats Stargardt, Berlin. S. 189. Verfügbar als Pdf unter https://www.stargardt.de/
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