Zeitfenster Nr. 27

Christine Westermann als Kind im Nationaltheater Mannheim

Die Fernsehjournalistin und Buchautorin Christine Westermann wuchs in Mannheim auf. Geboren 1948 in Erfurt, kam sie in Folge der Flucht ihres Vaters Ewald Westermann mit ihrer Mutter nach Mannheim. Christine Westermanns Vater war ein politisch denkender Mensch und überzeugter Pazifist. Nach dem 2. Weltkrieg setzten ihn die Amerikaner übergangsweise als Bürgermeister ein. Schließlich wurde er Verwaltungsdirektor des damaligen Erfurter Theaters. Christine Westermann beschrieb ihn als stets eleganten Mann, der bei Premieren Zylinder und Seidenschal trug. Sein klappbarer Zylinder kam mit in den Westen. Auch wenn die Ehe der Eltern bald nach der Ankunft in Mannheim geschieden wurde, liegt es nahe, dass Christine als Kind das Nationaltheater besuchte. In ihren autobiografisch nuancierten Büchern reflektiert sie, wenn auch nur kurz, ihre Bezüge zur Welt des Theaters. An einer Stelle in Die Familie der anderen von 2022 hadert sie sogar ein wenig mit der Stückauswahl, die man damals für Kinder im Nationaltheater präsentierte:
»Was wäre gewesen, wenn wir im Mannheimer Nationaltheater nicht nur ‚Peterchens Mondfahrt‘ und ‚Das fliegende Klassenzimmer‘ gesehen hätten? Wenn ich ganz selbstverständlich in ein Leben mit Literatur und Oper und Theater hineingewachsen wäre? Was wäre anders heute? Wäre die Scheu vor Weltliteratur, vor einem Zauberberg, vielleicht gar nicht erst aufgetaucht?«
Thomas Manns Der Zauberberg stand nämlich als Erbschaft des Vaters im Wohnzimmer ihrer Mutter hinter Glas in der Vitrine bereit. Ungeachtet der leisen Vorbehalte Christine Westermanns gegen das, was man damals unter Kinderliteratur verstand, war Peterchens Mondfahrt seit seiner Entstehung 1911 ein Publikumsrenner. Bildmaterial von einer Mannheimer Inszenierung aus dem Jahr 1930 ist in sechs Fotografien überliefert. Zu sehen sind darauf u. a. Bum Krüger als Sumsemann und der junge Willy Birgel in einer militärisch angehauchten Uniform. Nach 1945 sind zwei Neuinszenierungen bekannt: die erste vom 5. Dezember 1948 und die zweite vom 22. November 1952. Das Stück wurde in der Interimsspielstätte Schauburg 26 bzw. 23 Mal gegeben. In der Festschrift von 1957 (S. 200 und 206) ist dies unter der Rubrik »Märchen« dokumentiert und folgt (wie in den anderen Sparten) der strengen Gliederung in A »Uraufführungen«, B »Deutsche Erstaufführungen«, C »Erstaufführungen« und D »Neuinszenierungen« gab. Peterchens Mondfahrt findet sich unter D und wurde im November und Dezember als Weihnachtsangebot platziert.
Christine Westermann könnte also eine spätere Aufführung der Inszenierung von 1952 gesehen haben. 1959 erschien Peterchens Mondfahrt zudem als Fernsehfilm pünktlich zum 25. Dezember, bei dem auch die ursprüngliche Musik von Clemens Schmalstich (1880 - 1960) teils übernommen wurde. Bis heute folgten zahlreiche weitere Fassungen in allen existenten Medien für kleine und große Kinder.
Ursprünglich hatte Gerdt Bernhard von Bassewitz (1878 - 1923) aus mecklenburgischem Uradel das Stück entwickelt. Nachdem er seine militärische Karriere aus gesundheitlichen Gründen beenden musste, wurde er Schauspieler und kam von 1908 bis 1911 zu Max Martersteig als Direktionsassistent an das Kölner Stadttheater. Martersteig war zuvor u.a. von 1885 bis 1890 Oberregisseur in Mannheim. Schließlich betätigte sich von Bassewitz als freier Schriftsteller und schrieb mehrere Dramen, von denen sein bekanntestes Werk Peterchens Mondfahrt am 7. Dezember 1912 in Leipzig mit großem Erfolg uraufgeführt wurde. In einer Biografie über den Komponisten und Dirigenten Otto Klemperer, der im Jahr 1911 im Sanatorium Dr. Kohnstamm auf von Bassewitz traf, werden weitere Entstehungshintergründe mitgeteilt:
»Er […] lernt einen seltsamen mecklenburgischen Adligen kennen, Gerdt von Bassewitz-Hohenluckow, der einmal Leutnant der preußischen Landwehr gewesen ist, sich aber zum Entsetzen seines Clans der Literatur zugewandt hat. In Königstein schreibt er ein Märchen für zwei der vier Kohnstamm-Kinder, Peter und Anneliese, drei und elf Jahre alt, dem er den Titel Peterchens Mondfahrt gibt.«
Der Neurologe und Psychiater Oskar Kohnstamm betrieb in Königstein im Taunus ein Sanatorium, in der insbesondere Künstler zu neuen Kräften finden sollten. Bei Gerdt von Bassewitz waren die Bemühungen vergebens: als er 1923 aus der Buchfassung von Peterchens Mondfahrt in der Villa Siemens am Wannsee vorlas, verließ er plötzlich die Veranstaltung und tötete sich selbst. Auch wenn Christine Westermann dies als Kind nicht geahnt haben mag: es existieren glaubhafte Belege, dass das Sanatorium von Dr. Kohnstamm als Vorlage zu Thomas Manns Roman Der Zauberberg gedient haben könnte.

Dr. Laura Bettag
Bildnachweise, Literatur und Links:
  • Kachelbild: MARCHIVUM, Bildsammlung, PK01974. Der Plakatentwurf stammt von Hela Riedy-Woernle (1909 - 1991).
  • Christine Westermann (2022). Das Leben der anderen. Mein Leben in Büchern. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
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