Zeitfenster Nr. 39

Was von der Theorie des kinetischen Theaters im Theateralltag blieb

Die Maschinenfabrik Wiesbadener AG, die die Drehbühne des Großen Hauses bis 1957 zur Eröffnung des neuen Theaters am Goetheplatz einbaute, vermittelt in der Werbeanzeige für die Festschrift (S. 214) ihre eigene Darstellung über die Entwicklung der Bühnenformen:
»Die Urform war das einfache Holzpodium des Mimus, für den Kult der runde Tanzplatz mit dem Altar in der Mitte, um den sich die Zuschauer gruppierten«. Nach einer »langsamen Entwicklung« entstand die Guckkastenbühne. Sie, »die sich trotz vielfacher neuzeitlicher Bestrebungen zugunsten der Raumbühne mit Erfolg behauptet, entstand in Italien in der Barockzeit. Damit begann auch die Bühnentechnik ein wichtiger Faktor des Theaterbaus zu werden. Die Entwicklung- der Maschinen- und Elektrotechnik mit all ihren Begleiterscheinungen bot dann die Voraussetzung für die heutige Bedeutung dieser Industrie für den Theaterbau. Sie soll und kann Dienerin des Theaters aber nur sein, wenn sie so in Erscheinung tritt, daß sie der sich dem Spielgeschehen hingebende Zuschauer nicht empfindet.«
An der Schwelle zum 20. Jahrhundert begannen die Diskussionen, warum die überlieferten Bühnenformen allein nicht mehr reichten. Insbesondere die Guckkastenbühne als Entwicklung der feudalistischen Gesellschaft geriet in Misskredit. Das Bühnengeschehen sollte nach moderner Auffassung die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse aufgreifen bzw. widerspiegeln können. Um hierfür die nötigen baulichen Veränderungen zu schaffen, griff man in der theaterästhetischen Theorie häufig auf die Antike zurück, um Veränderungen anzugehen. Da niemand wusste, wie die antiken Theater genau aussahen, konnten individuelle Projektionen von Theaterschaffenden reichhaltig gedeihen. Die Tanzreformerin Isadora Duncan suchte »das Land der Griechen mit den Füßen« und (er)fand einen neuen und zukunftsweisenden Tanzstil.
Die Vorstellung von einer zentralen runden Spielfläche inspirierte Theaterschaffende häufig dazu, von konventionellen Inszenierungsstilen abzuweichen. Zudem entwickelte sich der Film mit seinen Bewegtbildern. Das Theater geriet zunehmend in seiner Definitionsmacht, was die wahre Kunst sei, unter Druck. Eine Lösung aus Innovationslust bzw. -frust sah man im Einsatz der Drehbühne. In Mannheim kam sie z.B. am 21. November 1919 zum Einsatz. Der damalige Intendant Carl Hagemann (1871-1945) setzte Friedrich Schillers Don Carlos damit in Szene. Die Verwendung der Drehbühne fand auf dem Theaterzettel eigens Erwähnung, so wie die Zuständigen für deren technische Einrichtung und Beleuchtung. Die 14 Bilder der Inszenierung wurden vollständig aufgeführt:
Ausschnitt aus dem Theaterzettel von Don Carlos, Online-Ausgabe: MARCHIVUM, 2023
Glücklicherweise hat sich ein Foto des Bühnenbildaufbaus der Drehbühne erhalten:
© Bildarchiv Foto Marburg
Carl Hagemann war Sohn eines Architekten und legte vor seiner künstlerischen Laufbahn die Vorprüfung als Bauingenieur ab. Seine theaterästhetischen Überzeugungen und sein technisches Know-how führten zu einer gelungenen Realisierung. Hagemann, der zweimal in Mannheim Intendant war, entschied sich in seiner Inszenierung für die Drehbühne, als diese noch relativ neu in die etablierte Theaterlandschaft Deutschlands kam. Sie arbeitete mit der Bewegung des Bühnenrunds, auf das man im alten Nationaltheater auf B 3 vom Zuschauerraum des Großherzoglichen Nationatheaters mit seinen Rängen aus verschiedenen Höhen herabblicken konnte. Diese Perspektivierung griff nur in Ansätzen des modernen Arenatheaters vor. Walter Gropius und Erwin Piscator dachten nur wenig später 1926 an radikalere Pespektivenwechsel. Im Totaltheater drehte sich nicht das Bühnenbild, sondern die in Ringen angeordneten Zuschauer*innen (vgl. ZF 38).
Als Gastregisseur am Nationaltheater Mannheim nutzte Erwin Piscator die Arenabühne, wenngleich diese weder in der Spielfläche, noch in der Zuschaueranordnung rund war. Eine fest installierte Drehbühne gab es nur im Großen Haus. Im Kleinen Haus setzte man eher auf den wandelbaren Zuschauerraum. Zumindest gab es später eine aufsetzbare, quasi mobile Drehbühne, die bei Bedarf zum Einsatz kam. So bezog Piscator bei seiner Inszenierung von Schillers Räubern 1957 weitere Teile des Raumes im Kleinen Haus ein. Dies hatte zur Folge, dass die Zuschauer*innen nicht von allen vier Seiten auf die Bühne schauen konnten, sondern nur von den zwei gegenüberliegenden Seiten. Piscator war dabei weit weg von dem, was wir heute in der Alten Musik von einer historisch getreuen Interpretion kennen:
»Die Bühnenform, die unsere Zeit beherrscht, ist die überlebte Form des Absolutismus – das Hoftheater. Mit ihrer Einteilung in Parkett, Ränge, Logen und Galerie spiegelt sie die soziale Schichtung der feudalistischen Gesellschaft wider. Diese Form mußte in dem Augenblick in Widerspruch zu den eigentlichen Aufgaben des Theaters treten, in dem die Dramatik resp. die gesellschaftlichen Verhältnisse eine Änderung erfuhren. Wenn ich mit Walter Gropius zusammen an die Skizzierung einer den veränderten Verhältnissen angepaßten Theaterform ging, so geschah dies nicht einfach aus dem Gesichtspunkt einer technischen Erweiterung oder Ergänzung, sondern in dieser Form drückten sich zugleich bestimmte soziale und dramatische Verhältnisse aus.«
So politisch reflektiert Piscator immer gewesen ist, so wenig war er bei der Wahl seiner inszenatorischen Mittel ganz starr. Bei seiner Inszenierung der Erstaufführung von Max Frischs »Biedermann und die Brandstifter« am 22. Mai 1959, blickten die Zuschauer*innen von allen vier Seiten, wie bei seiner Inszenierung von Arthur Millers Hexenjagd in der Ausweichspielstätte Rosengarten schon 1954 auf die Bühne.
So technisch avanciert die neuen Techniken einer Dreh- oder Arenabühne gewesen sein mögen (ZF 35), so konnte ihr Einsatz im funktionellen Ablauf des Theaterbetriebes Probleme verursachen. Bei stetigem, täglichen Wechsel des Spielplans ging ihre Verwendung oft mit erhöhtem Einsatz des betriebstechnischen Aufwandes sowie mit einer längeren Produktionszeit der Inszenierung einher. Nachdem der fest angestellte Bühnenbildner Paul Walter als langjähriger Unterstützer der Drehbühnen-Idee 1976 ausgeschieden war, kam nach L. Homering & A. Krock der Einsatz der Drehbühne zugunsten neuer Gestaltungsformen im bühnenbildnerischen Bereich vorübergehend zum Erliegen (S. 487).
Liest man den Briefwechsel zwischen Erwin Piscator und Hans Schüler bemerkt man bei Piscator leise Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der ehemals so revolutionären Bühnenform der Arenabühne. In einem Beschwerdebrief schreibt er am 7. Juli 1959:
»Es war Pech, daß wir im letzten Jahr den ‚Lebenden Leichnam’ wegen Ronneckers Erkrankung nicht machen konnten und stattdessen ‚Biedermann und die Brandstifter‘ einsetzten. Wie Sie wissen, war ich von Anfang an nicht begeistert und habe das Stück nur auf Ihren persönlichen Wunsch hin angenommen. (…) Zwei Tage vor der Premiere war ich in Ihrem Büro, um Ihnen zu sagen, daß ich das Stück so nicht herauslassen möchte. Man hätte es eben doch auf einer Guckkastenbühne spielen müssen.«
Die Idee der Arenabühne erlitt damit ein ähnliches Schicksal wie die der Drehbühne.
Zu Zeiten Carl Hagemanns hatte man sie als alternatives Bühnenkonzept eingeführt, um eine Erleichterung für schwere und aufwändige Bühnenaufbauten zu erzielen sowie Lagerkapazitäten und Hebevorrichtungen zu entlasten. Im Falle der Arenabühne war ihr Einsatz selbst zu einem unverhältnismäßig belastenden technischen Aufwand geworden, der die Zahl der Zuschauerplätze einschränkte und sich auf die wirtschaftliche Rentabilität unter Umständen negativ auswirken konnte. Historisch betrachtet wurde der Erfolg dieser alternativen Bühnenformen stets an dem traditionellen Standard der Guckkastenbühne und dem Repertoiresystem gemessen, was man bedauern mag oder eben nicht.

Dr. Laura Bettag
Bildnachweis, Literatur und Links:
  • Kachelbild: MARCHIVUM, Bildsammlung, AB00154-069
  • Hochschule für Bildenden Künste Saar (Hg.)(SS 2022). Projekt Raummaschinen. Erwin Piscator und das Totaltheater. Verfügbar unter https://www.hbksaar.de/projekte/details/raummaschinen
  • Liselotte Homering (Hg.)(1998). Mannheim und sein Nationaltheater. Menschen – Geschichte(n) – Perspektiven. Mannheim: Palatium-Verl., S. 487-488.
  • Schriftwechsel Piscator/Schüler s. MARCHIVUM, Nachlässe, NL Schüler, Hans
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