Zeitfenster Nr. 58

Co-Kreativität mit Hürden: Schauspiel-Musik

Aleida Montijn wurde 1908 in Mannheim geboren. Sie wuchs als Tochter des holländischen Tabakvertreters Christiaan Montijn auf, besuchte u.a. die Lieselotteschule (ZF 43) und studierte 1927–1930 an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim. Über ihre Eltern kam sie mit dem reichen Theater- und Konzertleben der Stadt in Kontakt und kannte herausragende Persönlichkeiten wie Wilhelm Furtwängler zumindest aus deren Erzählungen. Sie suchte Kontakt, wenn sie jemand künstlerisch sehr interessierte. Als sie zum ersten Mal vor Furtwänglers Künstlerzimmer stand, rief der Logenschließer »Montien«. Dem Treffen ging ein Brief voraus, in dem sie sich so vorstellte:
»[…] Ich bin inzwischen eine (verzeihen Sie, es klingt etwas befremdend) Komponistin geworden, habe in Dresden meinen Kapellmeister gemacht und lebe nur für meinen Beruf.«
Beide schrieben und besuchten sich in Folge häufiger, bis Furtwängler 1954 starb. In ähnlicher Weise machte Aleida die Bekanntschaft eines weiblichen Genies: Mary Wigman (1886-1973). Mannheims blühendes Kulturleben war auch im Bereich des Tanzes auf der Höhe der Zeit. Es gab damals einige Schulen, in denen sich die modern eingestellten Mannheimer*innen in Gymnastik und Ausdruckstanz ausbilden ließen. Dass Aleida als studierte Pianistin improvisieren konnte, qualifizierte sie dort als Korrepetitorin für den zeitgenössischen Tanzstil. Man arbeitete nicht mit vorgefertigten Stücken, sondern mit eigens für den Tanz gestalteter Musik. Ihre Tätigkeit in den Schulen von Irmgard Meyer und Frieda Ursula Back ermöglichten ihr von 1930 bis 1934 eine professionelle, wenn auch finanziell bescheidene Existenz. 1934 lernte sie Mary Wigman anlässlich eines »Sommerkurses für Tanzkomponisten« an der Wigman-Schule in Dresden näher kennen. Mary Wigman erkannte ihr Talent und beschäftigte sie als Korrepetitorin für ihre Schule. Mary Wigman als Tänzerin im Rosengarten in Mannheim zu erleben, stellte ein wegweisendes, aber auch irritierendes Erlebnis für Aleida da. Sie beschrieb dies in ihrer Autobiografie (S. 51) so:
»In Mannheim sah ich nur einen einzigen Tanzabend von ihr. Sie gab ein Gastspiel im hässlichen Nibelungensaal und tanzte und tobte vor einem Publikum, das sich gebärdete wie die Anhängergemeinde einer Sekte. […]. Ich lief nach Hause in meine Dachkammer und saß bis zum Morgengrauen an meinem Jugendstiltisch, dessen Beine ich abgesägt hatte, und heulte, und schlug mit einen Fäusten auf den Tisch ein. Der Tanzabend hatte mich so aufgewühlt. Ich war moralisch entrüstet und bin es immer geblieben, wenn Mary sich so animalisch äußerte […].«
Aleida Montijn hatte erhebliche Widerstände gegen die Ästhetik des modernen Tanzes zu überwinden:
»So etwas müßte verboten sein. Das macht die Menschen ja kaputt anstatt ihnen zu helfen, dieses grauenvolle Leben auszuhalten.«
Dessen ungeachtet entstanden in den nächsten Jahren bedeutende Musiken für Mary Wigman, wie Abschied und Dank, Tanz der Brunhild oder der Tanz der Niobe. Mary Wigman war ihr bis in die Nachkriegszeit eine unterstützende Mentorin und Freundin. Sie arbeitete am Nationaltheater Mannheim, wurde 1954 Trägerin des ersten Schillerpreises und Ehrenmitglied des Nationaltheaters.
MARCHIVUM, Bildsammlung, KF006105
Ihre Schülerin Dore Hoyer gab am 20.03.1949 im Nationaltheater ein Gastspiel (ZF 50). Laut Programmzettel spielte der Pianist Aleida Montijns Komposition Potiphars Weib, allerdings in der falschen Namensvariante »Montiyn«.
Ein ganz anderes Namensproblem ergab sich, als sie den Regisseur Erwin Piscator (ZF 57) in Frankfurt 1953 kennenlernte. Aleida Montijn war als Hauskomponistin für die Schauspielmusik fest angestellt. Piscator bereitete als Gast die Inszenierung von Jean-Paul Sartres Im Räderwerk vor. Obwohl die Zusammenarbeit in Frankfurt gut funktionierte, war es für ihn keinesfalls selbstverständlich, dass sie als »seine« Schauspielkomponistin auch andernorts tätig wurde. Sie beschreibt ihren leisen Groll, anlässlich einer Inszenierung von Krieg und Frieden 1955 in Berlin. Dort
»hatte man ihm Blacher empfohlen, als den geeigneten Bühnen-Musik-Komponisten. An mich dachte Piscator damals nicht. Ich war fest angestellt in Frankfurt, und außerdem hatte ich keinen ‚Namen‘. Das war ein Argument, das Piscator nie ausgesprochen hätte, um mir nicht weh zu tun. Aber er war auf seine Weise auch geschäftstüchtig. Zudem war ich eine Frau, und da wird rasch etwas gemunkelt bei den lieben Kollegen« (S. 201).
Auch eine weitere Zusammenarbeit mit Boris Blacher verlief in vielfacher Hinsicht suboptimal. Aufgrund ihrer mittlerweile gefestigten Beziehung zu Piscator sah sie sich verpflichtet, für die Bühnenmusik von Romain Rollands Robesspierre mit Blacher so etwas wie eine Gemeinschaftskomposition wider Willen einzugehen. Ihre Leistungen wurden jedoch nicht angemessen publik gemacht. Dies führte dazu, dass man ihr Erscheinungsbild und ihren Namen nicht immer in Bezug setzen konnte. Bei der Fotografie von Harry Croner auf dem Kachelbild waren bis dato nur die Namen der Herren bekannt (v.l.): Gottfried von Einem, Boris Blacher und Erwin Piscator. Immerhin waren allein für Piscator 21 Produktionen mit ihr entstanden! Mit seiner Inszenierung von Rolf Hochhuths Der Stellvertreter gastierte die Freie Volksbühne 1964 auch am Nationaltheater:
MARCHIVUM, Bildsammlung, PK01967
Schon 1957 war es trotz aller gesellschaftlichen und arbeitsvertraglichen Zwänge möglich geworden, mit Piscator gelegentlich auch außerhalb ihrer Frankfurter Festanstellung zu arbeiten. So auch bei der Eröffnungsinszenierung von Schillers Die Räuber am 12./13.01.1957 in Mannheim. Das Notenmaterial ist noch heute original in den Reiss-Engelhorn-Museen als Dauerleihgabe des Nationaltheaters erhalten.
Die Orchesterbesetzung umfasst 2 Flöten, Oboe, Fagott, 2 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken/Schlagzeug, Klavier und Harfe bei einer Streicherbesetzung von vier 1. Violinen, drei 2. Violinen, zwei Bratschen, zwei Celli und einem Kontrabass. In ihrer Autobiografie (S. 189-191) hat sie an einem vergleichbaren Beispiel dargestellt, welche Arbeitsschritte zur Produktion einer Bühnenmusik erforderlich sind. Sie komponierte die Musik, studierte sie mit den (nicht eigens genannten) Musiker*innen ein und produzierte das akustische Material für ein Tonband. Tonmeister Fred Hildebrandt ist ebenfalls auf dem Theaterzettel der Uraufführung genannt (ZF 57).
Wie wirkte diese Bühnenmusik, deren Bandaufnahme heute nicht mehr erhalten ist? Herbert Pott (ZF 33) hatte seinerzeit die Inszenierung gesehen. Nach seinem Eindruck zur Schauspielmusik gefragt, war ihm diese gar nicht zu Bewusstsein gekommen. Zu diesem Phänomen schrieb Aleida Montijn (S. 186):
»Es ergeht ihm [dem Schauspielkritiker] in der Premiere so ähnlich wie dem normalen Theaterbesucher: Wenn man den nach der Aufführung fragt, ‚wie hat Ihnen die Musik zu dem Stück gefallen?‘ dann sagt er ‚da war doch gar keine Musik‘. Und das ist dann für mich, für meine musikalische Arbeit an dem Stück, ein sehr großes Lob, denn es zeigt, dass die Musik dazugehörte, daß sie nicht herausfiel.«
Die geradezu equilibristische Leistung, sich zwischen Abhängigkeit und Autonomie zu behaupten, hat Aleida Montijn künstlerisch durchaus beherrscht. Grundsätzlich hatten es die Beiträge von Sparten in anderen Sparten nie leicht, obwohl sie anfangs unverzichtbare Bestandteile waren. Historischen Tanz in der barocken Hofoper zu erleben, ist heute eine Rarität für Spezialist*innen. Was aber im Alltagsbetrieb des Theaters nicht mehr präsent ist, wird schnell vergessen. Wer weiß heute noch, dass es auch bei Schillers Die Räuber am 13.01.1782 eine Schauspielmusik gab? Dabei hat Friedrich Schiller persönlich dazu Angaben hinterlassen. Er schrieb als »Wormser Korrespondent«:
»Unmöglich wars, bei den fünf Akten zu bleiben; der Vorhang fiel zweimal zwischen den Szenen, damit Maschinisten und Schauspieler Zeit gewännen; man spielte Zwischenakte, und so entstanden sieben Aufzüge. Doch das fiel nicht auf. Alle Personen erschienen neu gekleidet, zwei herrliche Dekorationen waren ganz für das Stück gemacht, Hr. Danzi hatte auch die Zwischenakte neu aufgesetzt, so daß nur die Unkosten der ersten Vorstellung hundert Dukaten betrugen. Das Haus war ungewöhnlich voll, daß eine große Menge abgewiesen wurde. Das Stück spielte ganze vier Stunden, und mich deucht, die Schauspieler hatten sich noch beeilet
Offenkundig hatte Franz Danzi »günstigere« Zwischenaktmusiken komponiert. Im Dramentext der Fünften Handlung wird in der 2. Szene zudem eine weitere musikalische Theatralisierung verlangt. Räuber Moor fordert:
»Spielt, befehl‘ ich! – Musik muss ich hören, daß mein schlafender Genius wieder aufwacht.« Und kurz darauf: »Nehmt eure Hörner, und spielt – Ich muss mich zurück wiegen in die Tage meiner Kraft – spielt!«
Was genau wurde gespielt? Man kann anhand einer überlieferten Quittung zur »Comedie [!], die Räuber« nur vermuten, dass zwei Oboisten, die auch Trompete spielten, die von Schiller geforderten »Hörner« geblasen haben. Oboist Vogel nahm die Summe für beide Musiker entgegen. Ausgezahlt hat sie I(gnatz) Fränzl (1736-1811), der seit 1779 als Kapellmeister für die Finanzen des nach dem Wegzug des Hofes neu organisierten Nationaltheater-Orchesters zuständig war.
MARCHIVUM, Bildsammlung, KF002354
Auf Befehl Räuber Moors könnte die Schauspielmusik also einen Marsch mit Oboen bzw. Trompeten gespielt haben. Welchen Marsch spielten sie bzw. sang die Räuberschar dabei mit? Im Jahr der Uraufführung erschienen 1782 bei dem Mannheimer Verleger Johann Michael Götz die Gesänge aus dem Schauspiel ‚Die Räuber‘.
Neben anderen sind »Räuberlieder« enthalten. Die Titel lauten: Karessieren, saufen, balgen, Ein freies Leben führen wir, Heut laden wir bei Pfaffen ein, Und haben wir im Traubensaft, Geh ich vorbei am Rabensteine, Das Wehgeheul geschlag‘ner Väter, Und wenn das Stündlein kommen nun. Komponiert hat die Lieder der Komponist und Kapellmeister Johann Rudolf Zumsteeg (1760-1802), den Schiller noch aus seiner Schulzeit an der Hohen Karlsschule in Stuttgart kannte. Dass die Mannheimer*innen vor oder nach dem Vorstellungsbesuch der Räuber mit diesen Liedern durch die Straßen zogen, scheint alles andere als abwegig. Darunter waren vielleicht auch einige Komponistinnen, die im Mannheim des 18. Jahrhunderts gar nicht so selten waren. Häufig erlangten sie »nur« als Opernsängerinnen, Instrumentalvirtuosinnen oder Familienmitglieder Bekanntheit, wie Franziska Lebrun und Margarethe Danzi.

Dr. Laura Bettag
Bildnachweise, Literatur und Links:
  • Kachelbild: Veröffentlichung mit Dank an die Stiftung Stadtmuseum Berlin. Inventarnummer SM 2013-2438, Foto: Harry Croner.
  • Aleida Montijn (1988). Nachrichten an K.G. Erinnerungen einer Komponistin. Kassel: Bärenreiter.
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