Zeitfenster Nr. 53

Paul Hindemith im Nationaltheater

Paul Hindemiths Familie stammt ursprünglich aus Schlesien. Erst sein musikalisch begabter Vater wanderte in den Frankfurter Raum ein und arbeitete im Malerhandwerk. Hindemiths hatten drei Kinder, wobei der 1895 in Hanau geborene Paul das älteste war. Der Vater förderte die musikalische Ausbildung von Paul, Antonie und Rudolf und ließ sie unter dem Namen »Frankfurter Kindertrio« auftreten. Da die Geschwister nicht den klassischen Background einer bildungsaffinen bzw. vermögenden Familie hatten, konnten sie bei der Wahl ihrer beruflichen Schwerpunkte auch unorthodoxe Wege beschreiten. Obwohl zunächst als Cellist und Dirigent ausgebildet, fand Rudolf Hindemith später zur Blasmusik und dem Jazz. Sein Bruder Paul hatte in Frankfurt am Hoch‘schen Konservatorium Violine und Komposition studiert, interessierte sich aber auch für viele andere Instrumente. Er jobbte als Bratscher im Kurorchester und (kriegsbedingt) in der Militärmusik. Von 1915 bis 1923 wurde er Konzertmeister an der Frankfurter Oper. Als Komponist tendierte er von Anfang an zur sog. Neuen Musik, wobei er sich sowohl von der Dur-Moll-tonalen als auch der 12-Ton-Musik distanzieren wollte. Als 1921 die Donaueschinger Musiktage für zeitgenössische Kammermusik gegründet wurden, die anfangs noch der Fürstlich Fürstenbergischen Hofmusik angegliedert waren, avancierte Paul Hindemith zum überragenden Talent. Er positionierte sich dort mit seinem Streichquartett op. 16 so erfolgreich, dass er ab 1924 selbst Mitglied des Arbeits-bzw. Programmausschusses wurde. Zur Präsentation seines Streichquartetts gründete er das Frankfurter Amar-Quartett, in dem er selbst den Bratschen-Part übernahm. Die Mitglieder waren der Ungar Licco Amar (1. Violine), Walter Caspar (2. Violine) und bis 1921.22 Rudolf Hindemith am Violoncello. Licco Amar, der später von den Nationalsozialisten aus »rassischen« Gründen verfolgt wurde und emigrierte, war von 1920 bis 1923 Konzertmeister am Nationaltheater Mannheim. Die Pionierzeit in Donaueschingen bedachte Hindemith selbst mit einigen Karikaturen, die auf das gesellige Miteinander in der fürstlichen Infrastruktur anspielen:
©Hindemith-Stiftung
Das Programm in Donaueschingen erweiterte sich kontinuierlich. 1927 kamen internationale Komponisten wie Darius Milhaud (ZF 54) und der Aufführungsort Baden-Baden hinzu. Danach folgte die Musik für die Tanzbühne und schließlich die Filmmusik sowie die Kammer- bzw. Zeitoper. Paul Hindemith lebte in jedem Genre mit dem Puls seiner Zeit und entwickelte adäquate Ausdrucksformen dafür. Das klassische Konzertpublikum fern der spezialisierten Festivals fühlte sich durch seine eigenwillige Rhythmik, seine für die damalige Zeit schonungslosen Dissonanzen und den Einbezug von Jazz-Elementen provoziert. Auch nicht alle Orchestermusiker*innen waren von seinen Werken angetan. In der Festschrift zum 150-jährigen Bestehen der Musikalischen Akademie des Nationaltheater-Orchesters Mannheim findet sich ein »Mannheimer Musiklexikon«, mit folgendem Eintrag bei Buchstabe H: »Hindemith: Warnungstafel für Besucher der Akademiekonzerte.« Bei Buchstabe B wie Bratsche ist zu lesen:
»Die Altstimme im Streicherchor; fühlt sich meistens etwas zurückgesetzt und ist deshalb froh, wenn sie einmal ein Solo bekommt. Es spricht nicht gegen das Instrument, daß Paul Hindemith zu seinen prominentesten Spielern gehört.«
Diese Art von Humor unter Musiker*innen ist bis heute gang und gäbe. Theodor W. Adorno, der beim gleichen Lehrer wie Hindemith Komposition studierte, analysierte später diese »Scherzkommunikation« (vgl. Schütte) beißend in seiner Studie »Dirigent und Orchester« von 1968. »Hindemith« ist Bestandteil des längsten aller Musikerwitze:
»Ein Musiker will ein Zimmer mieten, aber die Vermieterin lehnt bei der Berufsangabe gleich ab: Ich hatte schon einmal einen wie Sie. Zuerst war er sehr beethövlich, doch schnell wurde er mozärtlich zu meiner Tochter, brachte ihr einen Strauß mit, nahm sie beim Händel und führte sie mit Liszt über den Bach in die Haydn. Dann wurde er Reger und sagte: 'Frisch gewagnert ist halb gewonnen.' Er konnte sich nicht brahmsen und jetzt haben wir einen Mendelssohn und wissen nicht wo Hindemith.«
Paul Hindemith seinerseits bevorzugte den gezeichneten Witz:
©Hindemith-Stiftung
1924 heiratete er Gertrud Rottenberg (1900-1967). Sie war die Tochter von Ludwig Rottenberg, des Ersten Kapellmeisters des Frankfurter Opernorchesters und Enkelin des ehemaligen Frankfurter Oberbürgermeisters Franz Adickes. Sie und ihre Schwester, die mit Hans Flesch, dem Rundfunkpionier und Arzt verheiratet war, waren gut vernetzte und ebenso vielseitig begabte Persönlichkeiten. Auf seinen Zeichnungen stellte Paul Hindemith seine Frau häufig als Löwin dar. Das Internet-Lexikon MUGI bezeichnet Gertrud Hindemith als Schauspielerin, Sängerin, Managerin, Beraterin und Nachlassverwalterin. Das Kachelbild zeigt sie mit dem Intendanten und Regisseur Hans Schüler in den 60er-Jahren. Hans Schüler hegte eine künstlerische Vorliebe für Paul Hindemith. Das mag dazu beigetragen haben, dass Paul Hindemith 1960 zum Ehrenmitglied der Musikalischen Akademie ernannt wurde.
Vor dem Krieg hatte er in Deutschland mit seiner Frau Gertrud schwerste Sanktionen durchzustehen. National-völkisch gesinnte Musikkritiker und Politiker richteten bereits zum Ende der 1920er-Jahre immer heftigere Attacken gegen ihn. 1930 musste eine in Dresden geplante Aufführung des Einakters Sancta Susanna in letzter Minute abgesetzt werden, da Störungen der Veranstaltung angedroht wurden. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde er als »Bannerträger des Verfalls« bezeichnet, weil insbesondere Joseph Goebbels seine Musik für »kulturbolschewistisch« hielt. Zum Eklat kam es, als (der Mannheimer Ehrenbürger Wilhelm Furtwängler) Hindemiths Oper Mathis der Maler in Berlin zur Uraufführung annahm. Furtwängler setzte sich entgegen aller Anfeindungen öffentlich für ihn ein. Im Blätterwald rauschte es gewaltig durch den »Fall Hindemith«. In Folge dessen verlor Furtwängler seine Ämter als Staatsoperndirektor, Vizepräsident der Reichsmusikkammer und Leiter des Berliner Philharmonischen Orchesters. Später widerrief er einige Aussagen und kehrte zumindest bei den Berliner Philharmonikern vorübergehend wieder ins Amt zurück. Hindemiths Ruf hingegen blieb dauerhaft geschädigt. Seine Musik galt als »entartet« und war mit einem Aufführungsboykott verbunden. Hindemith verlor seine Kompositionsprofessur in Berlin und emigrierte, u. a. in die Schweiz und in die Türkei. Dort sollte er wie Licco Amar zum Aufbau des türkischen Musiklebens nach westlichem Vorbild beitragen.
Vor dem 2. Weltkrieg hatte vor allem Intendant Herbert Maisch (ZF 36) den nationalsozialistischen Versuchen getrotzt, Einfluss auf die Spielplanpolitik zu nehmen. Unter dieser Ägide sah man drei Stücke von Paul Hindemith auf der Bühne des alten Nationaltheaters: die Oper Cardillac 1927, den »Sketch mit Musik« Hin und Zurück 1928 und 1931 die »Lustige Oper in drei Teilen« Neues vom Tage.
Zur Mannheimer Erstaufführung der Grünewald-Oper Mathis der Maler kam es erst am 25.04.1954. Leichter tat man sich mit den sinfonischen Werken Hindemiths. War Hindemith bereits am 10.03.1923 in Mannheim innerhalb des Jahreskonzerts des Männergesangvereins Liederkranz als Bratschensolist aufgetreten, so wurden weitere Orchesterwerke ab 1953 sukzessive in Mannheim aufgeführt. Zuerst fiel die Wahl auf Das Marienleben. Zum Jubiläum des Nationaltheaters 1954 und der Verleihung von Schiller-Preis und Schillerplakette spielte man die Sinfonie Mathis der Maler, die im Zusammenhang mit der gleichnamigen Oper entstanden war. Unter Leitung Hindemiths kam zur Eröffnung der Akademiekonzerte der Spielzeit 1957.58 im »Festkonzert aus Anlass des 350-jährigen Stadtjubiläums« die Sinfonie Harmonie der Welt zur Erstaufführung.
Es hat den Anschein, dass wenigstens die Sinfonie zu Mathis der Maler zum Symbolwerk der Wiedergutmachung nationalsozialistischer Verbrechen mutierte. Diese gut gemeinten Versuche blieben bis zum gewissen Grad im Ansatz stecken. So lud die Stadt Mannheim 1958 die Berliner Philharmoniker zu einem Fest-Konzert in den Musensaal ein. Einerseits stand die Sinfonie zu Mathis der Maler auf dem Programm, andererseits lag die Leitung des Konzerts bei Herbert von Karajan. Als Parteimitglied der NSDAP löste Karajan 1941 Wilhelm Furtwängler ab, der u. a. in Folge des Skandals um Paul Hindemith in die Schweiz fliehen musste (vgl. Laux, S. 253).
Die musikalische und mentale Geschmacksbildung nach dem zweiten Weltkrieg gestaltete sich schwierig. Man förderte aber die Kammermusik Hindemiths. Durch die Mannheimer »Vereinigung Zeitgenössisches Geistesleben« kamen viele Stücke zur Aufführung. Hindemith selbst hatte in seiner »Gebrauchsmusik mit pädagogischen und sozialen Tendenzen« schon in den 30er-Jahren kreative Aktivitäten nicht nur für, sondern mit Kindern initiiert.
Jahrzehnte später schien die Zeit zur Umsetzung der Intentionen Hindemiths endlich gekommen. Am 03.04.1961 wurde Neues vom Tage unter Leitung des Komponisten im Großen Haus des neuen Nationaltheaters gegeben. Die Neuinszenierung nach 30 Jahren erregte Aufsehen! Am 17.11.1962 gelangte im Kleinen Haus die Uraufführung von Das lange Weihnachtsmahl mit dem Text von Thornton Wilder in der Inszenierung Hans Schülers zur Uraufführung (ZF 54). Eingerahmt wurde das Werk durch zwei Mannheimer Erstaufführungen von Balletten Hindemiths.
Paul Hindemith verstarb am 28.12.1963. Um seinen vielfältigen Nachlass kümmerte sich Gertrud Hindemith bis zu ihrem Tod 1967. 1968 wurde die Hindemith-Stiftung mit Sitz in der Schweiz gegründet, wo sie in der Zeit ihres Exils freundschaftliche Kontakte aufgebaut hatten. Die Stiftung richtete 1974 das Hindemith-Institut Frankfurt sowie 1978 das Hindemith-Musikzentrum in Blonay ein. Dem Andenken Hindemiths widmet sich auch das Hindemith-Archiv im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, wo er von 1951 bis 1958 unterrichtete. Einen Besuch wert ist ebenfalls das Hindemith-Kabinett im Frankfurter Kuhhirtenturm. Neben Ehrungen zu Lebzeiten zum 60. und postum zum 70. Geburtstag ist die Mannheimer Aufführung des Cardillac vom 27.03.1979 zu erwähnen. Im gleichen Monat zeigte das Frankfurter Paul-Hindemith-Institut die Ausstellung Paul Hindemith und die Zwanziger Jahre im Foyer des Nationaltheaters.

Dr. Laura Bettag
Bildnachweise, Literatur und Links:
  • Kachelbild: MARCHIVUM, Bildsammlung, ABBN1216-02589.
  • Nationaltheater-Orchester (Hg.)(1929). 150 Jahre Musikalische Akademie des Mannheimer Nationaltheater-Orchesters 1779 – 1929. Jubiläumsschrift. Mannheim: Bensheimer, S. 74 und 77.
  • Wilfried Schütte (1991). Scherzkommunikation unter Orchestermusikern. Interaktionsformen in einer Berufswelt. Tübingen: Narr.
  • Karl Laux (1977). Nachklang. Autobiografie. Berlin: Verl. der Nation.
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